89 Kugelschreiber - Zeichnungen

Man hört oft diese ausschliessenden Klassifizierungen, terribles simplifications: Künstler X sei ein Maler, Künstler Y ein Zeichner. Wenn der X, der bisher als ein Zeichner galt, der auch noch Bilder malt (man sagt simplifizierend: «zeichnerische» BiIder), nun mit ausgesprochen gemalten Malereien hervortritt - so Peter Baer 1983/84 in seiner Doppelausstellung in der Basler Galerie «zem Specht» und in der Kunsthalle Basel -, und wenn die Zeichnungen dieses Malers quantitativ seltener werden, dann hat's ihn erwischt: der Name «Zeichner» ist ihm abhanden gekommen, einfachheitshalber sperrt man ihm das entsprechende Revier. Wie unsinnig dies ist, beweisen die hier publizierten Zeichnungen, die äusserlich fern vom Maleratelier entstanden sind, Resultat einer einzigen, konzentrierten Unternehmung: im Grunde ein Werk.

Im Sommer 1986 zogen Peter Baer und seine Freundin (siehe erste Abbildungen) via Venedig (Tintoretto gesehen in der Scuola di San Rocco, wo schon Alberto Giacometti gebannt schaute, Peter Baer wusste das nicht, aber es freute ihn davon zu hören: «Wenn ich Giacomettis ungeheures Raumgefühl in vollen Farben zustande brächte, ohne den Raum zu verlieren, so käme ich meinem Ziel nahe - ich fühle mich ihm jetzt oft nahe») apulienwärts, man fand eine Bleibe, Kunst zu produzieren war nicht vorgesehen. Die Lektüre und Betrachtung eines Ausstellungs-Kataloges von Zeichnungen (von Georg Baselitz, Basel-Eindhoven 1984) verschaffte eine gewisse Unruhe Richtung Zeichnen. Bald suchte sich der Kugelschreiber auf den Deckeln von Pappschachteln ein beschränktes Betätigungsfeld. Am Kiosk fanden sich zwei Notizblöcke mit kariertem Papier. Das war nicht gerade Zeichenpapier, aber ein konkretes Angebot und zur Arbeit hic et nunc einladender als das Sortiment eines wohlausgestatteten Spezialladens in der Stadt. Er habe früher nie auf kariertes Papier gezeichnet, stellt Baer fest; aber «was man findet, ist oft genau das Richtige.» Der Kugelschreiber gehört, meint man, eher ins Bureau als ins Künstleratelier. Baer Iiess die Kugel dieses Schreibers immer gern über die Blätter fahren. Offenbar liegen ihm seine Alltäglichkeit und seine besonderen Möglichkeiten: dass man schnell und mit verschiedenem, sowohl ganz leichtem als auch extrem hartem Druck zeichnen kann. Die Strichführung kann «ätzend» heftig sein und zu einer geballten Schwärze führen, die aus den Ritzen das Licht umso schärfer hervorblitzen lässt. Oder der Strich ist haarig fein und dann meistens kreisend statt in Parallelen insistierend, manchmal barock kumuliert (8,16 u. a.), manchmal geknäuelt (wie bei 28, diesem «Köder»), manchmal geisterhaft unstofflich, schattenhaft, transparent, vielschichtig (32,50), dabei immer präzis, von einem inneren «Auftrag» kontrolliert und in Spannung gehalten, nie bloss verspielt (das gilt selbst für die scheinbar flackernde Zeichnung 77). Im ganzen gleichen die Striche des Kugelschreibers der Ätzspur von Radierungen, bei denen ein Rembrandt den höchsten Massstab abgibt.

Die 89 Zeichnungen dieser hier gesamthaft reproduzierten Werkgruppe sind in einem Zug entstanden, Blatt für Blatt wie unsere Abbildungen sich folgen, innerhalb von knapp zwei Wochen. Ein erster Notizblock, der mit Zeichnungen gefüllt wurde, umfasste die meist hochformatigen Zeichnungen 1 bis 71 (einzig die zweitletzte Zeichnung, 70, ist querformatig); der zweite, nur teilweise ausgenützte Block enthielt die querformatigen Zeichnungen 72 bis 89. Keine Zeichnung ist ausgeschieden worden. Höchstens musste mal, wie Baer bemerkt, ein Blatt «schwärzer werden». Insgesamt eine Sache von asketischer Konzentration. Als Maler sei er ein rechter Schwerarbeiter, sagt Baer, auch wenn seine Bilder vom Tempo der einzelnen Pinselstriche geladen sind und die suggestiven Erscheinungen rasant «einfahren». Oft drängt es Baer, seine Malereien nach einer gewissen Zeit «nachzunehmen», wenn sie ihn in irgend einem Punkt - es kann sich zunächst tatsächlich um eine winzige Stelle auf der Leinwand handeln- nicht mehr befriedigen, wenn da irgend eine Kraft noch zugeführt werden muss, wenn sich etwas Bestimmtes noch «meldet». Zeichnungen vertragen spätere Einmischungen schlecht. Überdeckung kommt meistens nicht in Frage (Ausnahme: Blatt 5), alles liegt offen. Die Exerzitien dieser 89 Blätter wollen ihren Rhythmus ungestört und ungeschmälert behalten. Schwer genug fiel es Peter Baer - ein Kuriosum, ein charakteristisches für diesen seine spontanen Eingriffe im nachhinein genau beobachtenden und interpretierenden Künstler -, später jedes Blatt zu signieren, ohne den Blattraum und seine Kräfte zu verletzen. Etwa sechs Stunden habe er gebraucht für das Aufsetzen der Signaturen, die durch Radieren meist wieder etwas zurückgenommen werden mussten. Warum stehen die Signaturen nicht einfach rückseitig auf den Blättern? «Ich muss offen dazu stehen. Wenn ich zeichne und dann die Bezeichnung anbringe, bin ich auch ein Gezeichneter». Warum fehlt die Datierung, bei dieser Folge ebenso wie bei den anderen Werken Baers? «Ich arbeite nicht für den Moment. Im übrigen: wann wird etwas aktuell? Erst beim jeweiligen Anschauen kann sich das ereignen, was mir vorschwebt: eine quasi biochemische Teilnahme am Kosmos.»

Kosmisch - ein grosses Wort, aber was sonst als hohe Zielsetzung soll die kleineren und grösseren Schritte der künstlerischen Arbeit bestimmen? Die Folge der Zeichnungen beginnt mit drei Bildnissen der Freundin Susi: im italienischen Renaissance-Profil zuerst, sehr ernst, konzentriert, elementar, der Kopf tatsächlich als Gegenstand der Welt-Annäherung (seit mindestens zehn Jahren hängt unverrückbar an einer dominanten Eckstelle von Baers Atelier ein gemaltes Porträt von Susi, und es ist sicher eines der besten Bilder Baers; im übrigen ist Porträtmalerei, nach dem Modell oder aus der Erinnerung, für Baer nie ein marginales Geschäft gewesen, hier könne man nichts vortäuschen, Unzulänglichkeiten würden sofort sichtbar). Wenn in der 5. Zeichnung das Thema während der Arbeit vom Porträt zum Stierkampf wechselt, einem der alten Grundthemen in Baers Kunst, so wächst damit zunächst weniger das Kosmische als das Selbstbildnerische. Oder man sieht, dass solche Unterscheidungen falsch sind. Auch wenn die Motive während der Arbeit mutieren, wenn sie sich aus dem suchenden-findenden Strich heraus konkretisieren, nicht willentlich bestimmt, bei nachträglicher Betrachtung inhaltlich sich füllend (und je nach Betrachtungsweise verschieden), so ist Inhaltliches doch keineswegs eine nur zum Schluss hinzukommende Sache, sondern macht das Leben der Formen aus, ihre «Biochemie» in wandelbarer, erscheinungsreicher, psychischer Urstofflichkeit. Mit Hoch-Demut, was Baer (und andere Künstler) gegenüber seiner künstlerischen Arbeit zwangsläufig hat, nennt er diese Stofflichkeit auch eine kosmische. Und er denkt, wenn beispielsweise bei der 5. Zeichnung nicht nur ein grosser Stier, der mit seinem hochgereckten Kopf der ursprünglich angelegten Stirn-Rundung des Porträtkopfes folgt, sondern auch (rechts unten) ein kleiner Stier dem exponierten Mann mit der Capa entgegentritt, dass in der Grössenverschiebung etwas erscheint, was der Verzahnung von riesig und winzig in der Welt entspricht: «Manchmal kommt es mir vor wie ein makrokosmischer und ein mikrokosmischer Vorgang, was gleichzeitig stattfindet.» (Für einen Martin Disler korrespondierte das Ineinandergreifen von Grossform und fast mikroskopischen Erscheinungen in ähnlicher, freilich anders gefärbter Weise mit einem «religiösen» Ganzheitsgefühl: «Verbundenheit mit dem Ganzen ... Momente, wo auch ich mich ganz fühle. Das ist natürlich auch eine Art von Liebeserlebnis ... Alles ist voll von kleinen Figuren, die in die grosse Oberfläche eingeflossen sind. Irgendwie kommt es mir dann vor, wie wenn die ganze Welt darin abgebildet wäre» - M. D., in: Kunst-Bulletin des Schweizerischen Kunstvereins, 4. April 1985, S.9).

Die Rahmung, die Baer der Zeichnung 5 am Schluss gegeben hat - «Fassung» nennt er sie, auf vielen anderen Zeichnungen und Gemälden Baers tritt sie in ähnlich zentrierender Funktion an das Bildgeschehen heran - reflektiert die erahnte Ganzheit der dynamischen, oft scheinbar auseinanderstrebenden Prozesse. Zugleich ist sie ein Tor für die in bestimmten Momenten mögliche, «kristallklare» Durchsicht in Räume, wo das Nächste und das Weiteste fusionieren und ihren Platz bekommen. In einem anderen Fall (20) intensiviert die rechteckige Fassung das Abstrahlen eines inneren Lichtes aus der kugelförmigen, gleichsam in die Zange genommenen Mitte. Die oberen Ecken werden gereizt, dynamische Dreiecke gewinnen eine sowohl fixierende wie ausweitende Suggestivkraft - hier und in anderen Werken Baers (nicht nur im ExtrembeispieI 89).

Eine verschiedene Form der «Fassung», die nun auf die gestreckte Einzelfigur bezogen wird, entwickelte Baer in einer längeren Folge von Zeichnungen, die mit Blatt 30 beginnt. Die Figur ist an eine obeliskförmige Struktur gebunden, die als Phallus, als Bergspitze oder als Sarg erscheint. Sie stösst schräg in den Raum vor und scheint das ganze Gefüge in Drehung zu versetzen. Es sieht aus wie schwebend im schwerelosen Raum, vielleicht auch in eine andere Zeit versetzend, ein Traumzustand (bei Blatt 42 komme Baer, sagt er, auch die Jakobsleiter in den Sinn: über dem Liegenden die schattenhafte stehende Figur mit den Sprossen neben sich, die eine Verbindung zum realen zeitlosen Raum herstelle, und damit mögen auch die Spiegelungen in den Blättern 27 oder 74 zusammenhängen). Auf der Zeichnung 32 hält der nunmehr eingeschlossene und in andere Richtung gezerrte Mann die Capa der Baer'schen Stierkämpfer (hier ohne Stier, die Stierkämpfer immer ohne Degen). Wirklich eine Capa? «Er nimmt Mass».

Bei Blatt 38 und weiterhin ist das, was Baer eine «Schriftrolle» nennt, offenbar die dynamisierte Variante der Capa: ein Instrument der Begegnung nicht mit dem Stier, sondern mit der Raumflucht und mit dem eigenen, rennenden Körper, dessen Kopf sich beugt, sich duckt, eine Gefahr überwindet und ein Ziel unbedingt noch und wie auch immer erreichen will mit seiner Fracht. Die Rolle kehrt vielfach wieder in scharf bewegten Situationen, besonders merkwürdig in der Zeichnung 57, wo die ganze Figur vor einem Riesenstuhl sich dreht und nun auch einen von der Schulter herabhängenden Rollenmantel erhält. Oder auf den Blättern 50 und 51: hier bildet die Rolle das Mittelstück des Balancierstabes eines Seiltänzers (im Gespräch mit H. U. Bühler, 1976, erwähnte Baer den Seiltänzer, «der im Vertrauen auf seine Fähigkeit beginnt, sich auf dem Seil, und nur noch auf dem Seil, wohl zu fühlen»). Nicht selten biegt sich die Rolle und bläht sich, vor allem auf den letzten Zeichnungen der Folge (80, 81, 86-89). Die Striche zischen über das Blatt ähnlich wie auf den vorangehenden Zeichnungen mit dem Bild des Wagenrennens (46, 59, 69, 79). Zuletzt (89) war es nötig, den «Schriftrollen»-Träger nicht nur zu «fassen», sondern recht eigentlich aufzuspannen und ihm in seiner Erregung Einhalt zu gebieten - übrigens einer doppelgeschlechtlichen Erregung, unten Frau und oben Mann (wie im Blatt 59 ein Mann und eine - von hinten gesehene - Frau rechts «zusammen» ein Wagenrennen veranstalten; man begegnet analogen Themen immer wieder, z. B. in 76, 85). Die Aktion, in der das forcierte Risiko der Kettenreaktion liegt (8, 53 u. a.), findet hier zunächst einen Abschluss (vgl. die gespannte, ihr Ziel suchende «Armbrust»-Gestalt auf 31, 53, 74, 78 u. a.)

 

In: Ferienrapport. 89 Zeichnungen von Peter Baer.

Birkhäuser Verlag, Basel 1987