Chronik einer Begegnung

Menschen zu porträtieren, das ist schon von altersher immer wieder versucht worden in Wort und Bild, Relief und Plastik. Dabei galt es jeweils sowohl das Individuelle wie auch das Beispielhafte des Porträtierten zu erfassen und dabei die objektiven Kriterien der Kunst zu erfüllen, ein so schwieriges wie reizvolles Unterfangen. Der Basler Maler Peter Baer und der Schriftsteller Frank Geerk haben versucht, einen eher ungewöhnlichen Weg des Porträtierens zu gehen; sie haben sich gegenseitig porträtiert - der eine mit Worten, der andere mit Farben. Es entstand ein faszinierender Dialog zwischen Sprache und Malerei.

1.
Katastrophen, Krankheiten, Liebesserlebnisse, Geburt und Tod sind gewöhnlich die Ereignisse, die das Uhrwerk der Welt anzuhalten vermögen, um uns in blitzartigen Augenblicken der Besinnung auf uns selbst zurückzuwerfen. Da offenbart sich dann auf einmal, dass wir uns wie Schlafwandler über dem Abgrund möglicher Erkenntnisse bewegen, abgelenkt durch tausenderlei Alltagspflichten, eingeschlossen in das dichte Bollwerk unsrer gesellschaftlichen Konventionen.

Aber um uns aus diesem somnambulen Zustand herauszukatapultieren bedarf es, wie ich kürzlich wieder einmal erfuhr, nicht unbedingt solcher Erschütterungen wie von der eingangs aufgeführten Art, es gibt auch Künstler, die uns solche Momente der Irritation und des staunenden Erschreckens zu verschaffen vermögen. Als ich vor fünfzehn Jahren in einem Hinterhaus der Utengasse Tür an Tür mit dem Maler Peter Baer wohnte, waren wir beide wohl noch in einem Anfangsstadium unsrer Entwicklung, und so beschränkte sich unser Kontakt mehr oder weniger darauf, uns gegenseitig Bilder und Gedichte zu zeigen, wohl auch sehr kritisch zu kommentieren, aber noch ohne jenes vorbehaltlose Aufeinandereingehen, das unsre spätere Begegnung kennzeichnen sollte. Schon damals hegte ich allerdings eine stille Bewunderung für meinen Nachbarn, der kompromisslos seiner künstlerischen Vision nachlebte, immer auf der Suche nach der «Vierten Dimension»; schon damals sprach er davon, dass er die Zweidimensionalität der Leinwand aufheben wolle, um den Kosmos aufzubrechen. Er sprach von kilometerweiten Räumen, die man dem Betrachter öffnen könnte, und er glaubte daran, dass ihm das eines Tages gelingen würde.

Schon damals nannte er Giacometti einen «Heiligen» der Malerei, von dem er gelernt habe, aus Hell und Dunkel Raum zu schaffen. Aber da war etwas, das ihm sagte, man könne die Entwicklung noch weitertreiben, über die Schwelle der dritten Dimension hinaus, hinein in die vierte Dimension, und damit war wohl die Dimension eines geistigen Raumes gemeint. Da war also der Künstler Peter Baer von einem philosophischen Erkenntnistrieb ergriffen, gleichzeitig aber beseelt von dem Glauben, dass Ideen wie von selbst Gestalt annehmen würden, wenn man ihnen nur lange und intensiv genug nachginge.

Und jetzt, als ich ihm nach fünfzehn Jahren zufällig wieder auf der Strasse begegnete, teilte er mir mit, es sei ihm endlich gelungen, worüber er sieben magere Jahre lang «gehirnt» habe, nämlich die Synthese zu schaffen aus der Hell-Dunkel-Materie und der Farbe. Er berichtete mir so spontan und herzlich über seine Arbeit, als hätten wir uns nicht vor fünfzehn Jahren, sondern am Tag zuvor zuletzt gesehen. Ich aber merkte ihm an, dass er alle sieben Kreise der Hölle durchmessen haben musste, sein störrischer Charakterkopf mit der Pagenfrisur wirkte wie durchlässig, seine offensichtliche Heiterkeit verbarg eine unauslotbare Traurigkeit, und in seinen neugierigen Augen lag neben dem alten Schalk eine sanfte, fast schon abgeklärt scheinende Schüchternheit.

Er lud mich in seine Wohnung ein, und dann erzählte er von seinen Einsamkeiten, Kämpfen, Ängsten und beträchtlichen Erfolgen. Ich merkte, dass er stolz auf diese Erfolge war, aber nicht, weil sie seine Eitelkeit befriedigten, sondern weil sie nichts als eine logische Konsequenz seiner Bemühungen waren, eine Bestätigung dafür, dass er recht gehabt hatte, sich jahrelang abseits zu halten, um im Zentrum seiner selbst zu bleiben. Im Zentrum seiner selbst zu bleiben? Normalerweise hätte ich diesen Satz sofort wieder gestrichen, als Phrase verworfen; in diesem Falle aber erhält dieser Satz einen seltsamen Sinn: niemals zuvor ist mir ein Mensch begegnet, der sich so sehr im Kosmos herumschleudern liess wie Peter Baer, um doch immer wieder konkreten Boden unter den Füssen zu fassen - sonst wäre ihm ja kaum möglich, seine Sternfahrten so präzise, so millimetergenau auf die Leinwand zu bannen. Wie sehr also musste dieser Mensch sich an ein Zentrum in sich selbst klammern, um diese Schleuderpartien eines entfesselten Bewusstseins auszuhalten! Für seine rastlose Suche nach immer neuen Formen in denen er seine Ideen aufgehen lassen konnte, brauchte er ein solches «Zentrum in sich selbst».

Diese Gedanken kamen mir allerdings erst später; vorläufig sassen wir noch recht friedlich in seinem bescheidenen Wohnzimmer, während das Licht der Dämmerung ein seltsames Spiel mit den Bildern an der Wand trieb. Ich bemerkte, wie sich das Bild «Gralsritter», eine euphorische Farbsymphonie mit fast schon erschreckenden Tiefen, von Minute zu Minute änderte. Die harten Konturen, die ich noch am frühen Nachmittag wahrgenommen hatte, wichen milderen Übergängen, es war, als wollte sich der Abend mit dem Gralsritter vermählen.

«Dieses Bild hat mich viel gekostet», meinte Peter Baer, und fügte eine Weile später hinzu: «Immer, wenn ich bei einem Bild nicht mehr weiterkomme, wenn ich mit dem Handwerk am Ende bin, dann gibt es nur noch eines, was weiterhilft: die Liebe.»

Und dann berichtete er mir von der Entstehungsgeschichte seines Bildes «Der Tisch», eines Monumentalgemäldes, und wie ein Freund ihm zur ersten Fassung gesagt hatte, es sei so viel Hass darin. Das habe ihm nun keine Ruhe gelassen, meinte er, und er habe noch Monate investiert, um diesen Hass aus dem Bild zu eliminieren. Das aber war nun der Punkt, hinter den es kein Zurück mehr gab, meine Neugier war geweckt: Wie war es möglich, Hass in Liebe zu verwandeln, einfach, indem man Farben und Formen auf eine Leinwand brachte? Da fand offenbar ein alchemistischer Prozess statt, ein magisches Ritual.

Dieses Eingeständnis machte aus unserer Begegnung mehr als nur ein freundliches Gespräch zwischen zwei alten Freunden, die danach wieder auseinandergehen, um sich vielleicht erst Jahre später wieder zu treffen. Ich schlug ihm vor, ihn einmal in seinem Atelier zu besuchen, und er sagte zu, wobei ich übrigens eine leise Angst empfand; ich spürte: jetzt hatte ich mich auf etwas eingelassen, was meine Sicht der Welt verändern würde. Vorläufig allerdings trieb mich diese Begegnung eher ein Stück zurück in meiner Biografie: Als ich Peter Baers Wohnung verliess, ging ich zur Wohnungstür nebenan und öffnete sie wie gewohnt - schreckte aber gleich zurück, als ich nichts als eine leere Küche sah, wo vor fünfzehn Jahren meine Töpfe und Pfannen gehangen hatten.

2.
Wenige Tage später trafen wir uns in seinem Atelier in der alten Kaserne. Ein gewaltiges Oeuvre stapelte sich in der Eingangshalle und an den Wänden des Ateliers, und als ich sieben Stunden später das Atelier wieder verliess, hatte ich das Gefühl, als seien mir mit sanfter Gewalt Reissverschlüsse in meinem Gehirn aufgerissen worden, aber ich hätte nicht sagen können, was mir eigentlich zugestossen war.

Ich hatte einen Maler in Aktion erlebt, der mir ein halbes Hundert meist grossformatiger Bilder an die Wand gehängt und kommentiert hatte, immerzu besessen von seiner Vision, Grenzen zu durchbrechen. Ich hatte mir erklären lassen, wie Dichte, Weite und Geschwindigkeit visualisiert werden können mit nichts als einer Leinwand und Farben, und ich hatte begriffen, dass diese Bilder tatsächlich über eine ungewöhnliche atmosphärische Dichte und gläserne Plastizität verfügten. Peter Baer wurde nicht müde, mein Staunen zu vertiefen, indem er mir in seiner euphorischen Art Sehhilfen gab. «Siehst du, wie dicht dieses Bild ist?» meinte er etwa, und fügte dann hinzu: «Da kommt keine Fliege durch!»

Damit meinte er wohl, dass die Spannungsfelder zwischen den Farben lückenlos durchkomponiert waren, nichts dem Zufall überlassen worden war. Gleichzeitig aber machte er mich darauf aufmerksam, dass der Wirkungsraum, der um die Bilder herum entstand, kilometerweite Distanzen eröffnete, so dass man sich als Betrachter nicht nur dem Bild konfrontiert sah - man war von ihm umgeben; was sich da abspielte, das war fast schon ein holografischer Effekt, war aber eben doch etwas ganz anderes: je weiter man nämlich Abstand nahm von diesen Bildern, desto tiefer zog es den Betrachter in sie hinein.

«An diesem Bild etwas wegzunehmen», meinte er etwa, «das wäre Mord. Und etwas hinzuzufügen, ist Schmuggel!» Und dann erzählte er mir eine Geschichte über Paul Cézanne, die er auch für sich selbst für zutreffend hielt. Beim Betrachten seines Porträts habe der Kunsthändler Vollard den Maler darauf aufmerksam gemacht, dass er ein quadratzentimetergrosses Stückchen Leinwand an der Hand vergessen habe auszumalen, worauf Cezanne ihm geantwortet hatte: «Wenn ich diesen Quadratzentimeter übermale, dann muss ich mit dem ganzen Bild nochmals von vorne anfangen.»

War das nun Unbescheidenheit, wenn Peter Baer sich mit Paul Cézanne verglich? War das eitles Eigenlob, wenn er sich immer wieder so herzlich für seine eigenen Bilder begeisterte? Kaum. Ich empfand es nie als peinlich oder als Ausdruck einer unzulässigen Selbstüberschätzung, denn Peter Baer begeisterte sich niemals für sich selbst, sondern immer wieder für sein Werk, dessen Vollendung er als Geschenk, als Gnade, empfand. Seine Kommentare hatten nichts mit Eigenlob zu tun; sondern schlicht und einfach mit dem staunenden nachträglichen Verständnis dessen, was ihm während des Malvorgangs intuitiv «passiert» war. In diesen Zusammenhang passt eine Bemerkung, die er wiederholt als abschliessenden Kommentar zu seinen besten Bildern abgab: «Ich wollte», meinte er, «dass ich dieses Bild gemalt hätte!» Wer aber hatte diese Bilder gemalt - wenn nicht Peter Baer?

Inzwischen ist mir klar, was er mir sagen wollte. Er selbst hatte zwar den Pinsel gehalten und die nötigen Bewegungen ausgeführt, gemalt aber hatte diese Bilder seine Lebensgeschichte; mit jedem Bild war eine Geschichte verbunden, ein Stück Biografie, das zu ihm hin- und das von ihm fortgeführt hatte. Peter Baers Biografie, seine Vision und die Materialisation auf der Leinwand erschienen mir mehr und mehr als gespenstische Einheit.

Er berichtete mir von dunklen Zeiten, wo er durch die Nacht geflohen war, gejagt von Phantomen, die sich im Morgengrauen als Wirklichkeit entpuppten, einer Fahrt durch Regen und Kälte, die dann zu seiner irrtümlichen Verhaftung und Verwahrung auf dem Lohnhof geführt hatte.

Um seine Bilder malen zu können, habe er immer wieder «über die Schwelle müssen», und um dieser Erfahrung willen auch einmal in die «Spinnmühle» wollen. «Ich habe die Welt als Irrenhaus und mich als normal erlebt», meinte er, «und dafür hat man mich bezahlen lassen.» Nun, diese Welt als Irrenhaus zu erleben, meinte ich, das sei für mich sehr wohl mit dem gesunden Menschenverstand vereinbar! «Trotzdem», meinte er, «solltest du nicht unbedingt darüber schreiben, sonst halten sie mich für einen Irrenhäusler»

PeterBaer als «Irrenhäusler» zu bezeichnen, wäre mir nie eingefallen, und darum sei mir eine Bemerkung zum Thema «Genie und Wahnsinn» erlaubt.

Ich denke, dass ein Künstler, der diese stockfinstere Welt transparent machen möchte, gar nicht anders kann, als unsre gewohnten Normen zu verlassen; er wird sich von einem «Wahnsinnigen» aber gerade dadurch unterscheiden, dass seine Vorstösse in andre Wirklichkeiten stets von den nüchternen Niederschlägen seines harten, überprüfbaren Handwerks begleitet sind. Und wenn Peter Baer sich so zwischen zwei Wirklichkeiten zu bewegen scheint, so sind das eben nur für uns, die Aussenstehenden, zwei Wirklichkeiten: für ihn selbst ist es wohl die Erfahrung eines durchaus einheitlichen geistigen Raumes, der in seinen Bildern glasklar Ausdruck findet. Wie anders wäre es denn möglich, Bilder zu schaffen, die den Betrachter in sich aufsaugen, wenn er Abstand nimmt? Mit Wahnsinn hat das nichts zu tun, im Gegenteil, ich sehe darin eher die Dokumentation einer besonders klaren, aussergewöhnlichen Erkenntnisfähigkeit.

Wir leben, scheint mir, in einer Welt, die ihren Wahnsinn institutionalisiert hat und daher kaum noch realisiert, und so sehe ich in Peter Baers Aufenthalten in der psychiatrischen Klinik vor allem einen Akt der Solidarität mit jenen, die unsre Normen verlassen haben. Baer wollte am eigenen Leib erfahren, wie es ist, als «Andersartiger» behandelt zu werden. Er war zu keiner Zeit «krank» im klinischen Sinne, sondern gesund genug, das Kreuz der «Spinnmühle» vorübergehend auf sich zu nehmen, um die Welt auch aus diesem Blickwinkel zu sehen, ohne sich dabei kaputtmachen zu lassen,

Als ich nach dieser Nacht irgendwann im Morgengrauen Peter Baers Atelier verliess, hatte ich das Gefühl, als hätte Elias mich in seinen Feuerwagen geladen und wäre mit mir quer durch alle Finsternisse dieser Welt gejagt, um mich ein Jahrhundert später wieder zu entlassen, lichteren Zeiten entgegen. Und tatsächlich: Ein immer wiederkehrendes Motiv in Peter Baers Malerei ist der «Wagenlenker», riesige Bilder zumeist, die einen winzigen Lenker über einem mit atemberaubender Geschwindigkeit durch den Kosmos stürzenden Wagen zeigen. Das jüngste Bild dieser Reihe hatte mich die Vermutung äussern lassen, dass die Lichtgeschwindigkeit bei weitem nicht die schnellste Geschwindigkeit sei - es gebe auch noch die Dimension der menschlichen Vorstellungskraft; unser Bewusstsein erlaube es uns, zwei beliebig voneinander entfernte Punkte des Kosmos augenblicklich miteinander zu verbinden: und mit eben dieser Geschwindigkeit schien mir Peter Baers Wagenlenker durch das Bild zu brechen. Bei der Betrachtung dieses Bildes fing ich an zu ahnen, was er mit der Vierten Dimension, mit dem «geistigen Raum» gemeint haben könnte.

3.
Was hatte ich erfahren in dieser Nacht? Ich hatte Räume und Motive wahrgenommen, die mir neu gewesen waren. Was aber wusste ich über den Maler? Ich hatte viele Geschichten und etwas von seiner Philosophie erfahren - aber das genügte mir nicht mehr. Ich wollte noch mehr wissen. Wie aber sollte ich das anstellen? Wie erfährt man etwas Wesentliches von einem anderen Menschen? Wohl nur in einem vertieften Dialog. Man muss sich aufeinander einlassen. Und die Kenntnis muss eine gegenseitige sein sonst bleibt sie oberflächlich. Aus diesem Gedanken heraus hatte ich die Idee, dass wir uns gegenseitig porträtieren könnten. Ich würde versuchen, Peter Baer in Worte zu fassen, und er würde versuchen, mich ins Bild zu setzen. Ein Experiment, das auch schiefgehen konnte, gewiss, aber kaum war die Idee geboren, sassen wir uns auch schon gegenüber in seinem zweiten Atelier an der Oetlingerstrasse.

Der erste Nachmittag verging damit, dass wir die nötigen Arrangements trafen. Ich stellte Tisch, Stuhl und Schreibmaschine auf, und Peter Baer hängte eine Leinwand an die Wand. Alles war bereit, wir hätten beginnen können.

Aber die Stimmung stimme noch nicht, meinte mein Partner. Ich sollte erst auch mit diesem Atelier vertraut werden, und so bat ich ihn, mir die Bilder zu zeigen, die hier entstanden waren. So reiste ich noch einmal ein paar Stunden durch seine Bilder, liess mich mehr und mehr davon einfangen, bis mich plötzlich eine schöpferische Ungeduld packte. Ich verabschiedete mich eilig, ging nach Hause und schrieb die ersten Seiten dieses Versuches, Peter Baer zu porträtieren.

4.
Und dann, nachdem ich ihm am nächsten Tag die ersten Seiten vorgelesen hatte, schien der Bann gebrochen. Jetzt, nachdem ich voll auf das Experiment eingestiegen war, hatte Peter Baer keine Probleme mehr, nun seinerseits mit der Arbeit zu beginnen. Ich nahm hinter der Schreibmaschine Platz, und er öffnete die Farbeimer. Aber ich merkte gleich, ich würde nicht zum Schreiben kommen an diesem Nachmittag. Ich war zu sehr im Bann dessen, was ich zu sehen bekam.

Jetzt begann nämlich der Baer zu tanzen. Nervös, hellwach und mit einem herausfordernden Lächeln auf den Lippen ging er auf die leere Leinwand zu, nahm wieder Abstand, kehrte zurück, blieb stehen und sah mir ins Gesicht, wobei sein Blick mich nicht etwa zu durchdringen suchte, sondern mich behutsam abzutasten schien. Es war; als hätten seine Augen eine seismographische Dimension dazugewonnen, jetzt, da er begann, die inneren und äusseren Konturen seines Modells zu erforschen. «Möchtest du lieber ein graues oder ein farbiges Porträt?» fragte er mich schalkhaft. «Lieber ein farbiges», rief ich ohne zu zögern.

«Das dachte ich mir.» Er lachte. «Und daher habe ich ja auch von Anfang an ein Gelb aufgemacht.» «Was geht jetzt in dir vor?» fragte ich. «Was bedeutet diese leere Leinwand für dich?»

«Das ist immer wieder eine Konfrontation mit dem total Unbekannten», meinte er. «Das ist, wie wenn man aufs Eis hinausläuft. Ich habe noch keine Ahnung, ob sich etwas ansagt. Vielleicht gelingt heute gar nichts. Aber meistens kommt dann schon etwas. Irgendwann ... »

Jetzt wurde er sichtbar noch um eine Spur nervöser, räumte Farbeimer zur Seite, um auf dem Boden Platz zu schaffen - das würde seine Palette sein. «Alles braucht seine Zeit», erklärte er mir nachdenklich. Nun begann auch ich nervös zu werden und tippte ein wenig auf meiner Schreibmaschine herum. «Ordnest du den verschiedenen Farben kosmische Kräfte zu?» fragte ich, mehr aus Verlegenheit als aus Neugier, und kam mir etwas doof dabei vor. Entsprechend lapidar fiel dann auch seine Antwort aus.

«Gelb hat etwas mit der Sonne zu tun», meinte er. «Wesentlicher aber ist, wie ich die Farben plaziere. Wenn ich ein Violett neben ein Grün setze, dann ist dieses Grün etwas vollkommen anderes als wenn ich ein Rot daneben lege ...» Er schwieg und blieb stehen. «Ja», meinte er. «So ist es gut. Das ist typisch. Behalte diese schräge Kopfstellung bei. Da ist etwas Wesentliches von dir drin ...» In diesem Augenblick, das war ganz deutlich, hatte er das Porträt begonnen, noch ohne dass davon die geringste Spur auf der Leinwand zu sehen gewesen wäre.

«Soll ich die Brille anbehalten?» fragte ich verunsichert. «Ja». meinte er. «Arbeitskleidung ist immer gut ... » Und dann war auf einmal eine gelbe Linie auf der Leinwand. «Ich glaube», meinte er, «es ist gut, wenn ich dich gross ins Bild nehme.» Was hatte diese gelbe Linie mit mir zu tun? Mir war ein Rätsel, was da vor sich ging. «Jetzt entscheidet man sich», kommentierte er sein weiteres Vorgehen, «ob man irgend einen Sektor zum Beispiel ins Blau laufen lässt ...» Und schon kam eine grosszügig angelegte blaue Schraffur zu der gelben Linie dazu. «Das sind Entscheidungen, die aus dem Unterbewussten kommen», erklärte er. «Ob es falsch oder richtig ist, das sieht man erst viel später. Bis jetzt jedenfalls habe ich noch keine Ahnung, inwiefern dein Charakter wirklich einfahren wird.»

Jetzt begann eine stumme Phase intensiver Arbeit; in wenigen Minuten verwandelte sich die ockerne Leinwand in ein grosszügig angelegtes Farbenspiel, und mir schien, als ob Peter Baer sich jetzt federleicht auf Zehenspitzen bewegte; er schwebte förmlich auf die Leinwand zu und von ihr fort, und mir wurde klar, er malte nicht nur mit der Hand, die den Pinsel hielt, er malte mit dem ganzen Körper, er ging auf in seinem Bild. Dazwischen aber tastete sein Blick mich immer wieder ab, ohne dass mir das allerdings im Geringsten unangenehm gewesen wäre; ich fühlte mich nicht etwa medizinisch kalt durchleuchtet, sondern auf eine recht eigentümliche, liebevolle Art verstanden.

«Gehst du jetzt von meinem Äusseren aus oder von der Kenntnis meiner Person?» fragte ich.

«Bis jetzt», meinte er, «weiss ich noch rein gar nichts... Ich weiss nur, dass der Winkel hier zwischen der Schulter und dem Hals nicht stimmt.» Ein Winkel zwischen Schulter und Hals? So sehr ich auch suchte, ich konnte weder einen Hals noch eine Schulter, geschweige denn einen Winkel erkennen. «Das muss ich korrigieren», meinte er. «Da muss ich quasi eine Umbuchung vornehmen.» Und wieder begann eine Phase fieberhafter, stummer Arbeit. Jetzt hatten seine Bewegungen etwas Energisch-Entschlossenes, er glich einem Fechter, der hellwach Schläge parierte, aber Peeter Baer begegnete der Herausforderung nicht mit einem Degen, er teilte Pinselhiebe aus.

5.
Dann eine Phase der ruhigen Betrachtung. Meine rechte Schulter war herabgesetzt worden, und jetzt erkannte ich auch den veränderten Winkel. Damit sei jetzt das Bürgerliche an mir zum Ausdruck gekommen, meinte er zufrieden, setzte dann aber hinzu, ich sei ja alles andere als ein reiner Bürger, und daher müsse jetzt auch das Störrische ins Bild. Ich sei wohl sehr verletzt worden, vermutete er, und mit diesem Satz warf er zwei Pinselstriche auf die Leinwand, in denen ich sofort meinen Mund wiedererkannte. «Jetzt haben wir auch das Kindliche drin», triumphierte er und fügte etwas später hinzu, dass nun natürlich noch der slawische Zug meines Gesichtes fehle. Es folgte eine sehr aktive Phase, während der das Bild eine fast dreidimensionale Farbfülle erhielt. «Ich versuche natürlich immer, das Richtige zu tun», kommentierte er lachend seinen Eifer, «und manchmal ist eben auch das Unmögliche das Richtige! ... Im Grunde eine verdammte Dilettantenmalerei, was ich da mache ...»

«Jetzt läuft es gut», freute er sich wenig später. «Es ist eben doch etwas Besonderes, wenn das Modell anwesend ist. Dann kommt mit ins Bild, was zwischen uns geschieht ... Ich habe es übrigens auch schon erlebt, dass ein Modell in meinem Atelier sass und dabei Lichtjahre von mir entfernt war. Das hat dann Wochen gedauert, bis ich endlich den Kontakt gefunden habe ...» Er unterbrach sich, trat ein paar Schritte zurück und rief erstaunt: «Jetzt sind auf einmal auch deine weiblichen Züge da! Ja, man muss dir früher einmal sehr weh getan haben. Du bist so trotzig und beleidigt.»

Ich spürte: jetzt hatte er etwas von mir aufgefangen, über das ich selbst kaum Bescheid wusste. Aber wäre nicht genau dies der Sinn eines Porträts, dass auch der Porträtierte etwas Neues über sich erfährt? Als ich ihm sagte, dass er vermutlich recht habe mit seiner Bemerkung, winkte er ab. «Ich habe keine Ahnung», sagte er und malte weiter. «Ich weiss nur, dass mich Fassaden noch nie interessiert haben. Im Übrigen weiss ich auch nie, ob ich nicht kläglich versage. Aber irgendwann wird schon das Entscheidende passieren. Das traue ich uns beiden durchaus zu.» Ja, ich hatte tatsächlich den Eindruck, dass dieses Porträt eine Art Teamwork war, obwohl ich selbst den Pinsel nicht anrührte. Er bezog mich mehr und mehr in seinen Arbeitsprozess mit ein, der so für mich zu einem Akt der Selbsterkenntnis wurde.

«Jetzt brauchen wir dringend eine Pause», stöhnte er. «Besser zehn Minuten nachdenken und eine Minute malen - als umgekehrt! Und vor allem darf man nie Angst um sein Bild haben, solange es unterwegs ist.»

«Merkwürdig», bemerkte ich, «dass du das Gesicht vollkommen ausgespart hast!»

«Ja, das ist merkwürdig», meint er: «Ich habe versucht, dich durch die Umrisse zu porträtieren.»

«Wie erklärst du dir das?»

«Das weiss ich auch nicht», sagte er achselzuckend und liess sich auf einem Stuhl nieder, um sich eine Zigarette zu drehen. «Aber ich vermute, dass es so bleiben wird.»

6.
Aber er hielt es nicht lange aus an seinem Platz. Kaum hatte er die Zigarette angezündet, stand er schon wieder auf und meinte: «Jetzt muss ich etwas ganz Verrücktes tun. Das Bild ist viel zu brav, und das entspricht dir nicht. Ich muss die Achse schräger legen, und dann das Quadratschädelhafte, das du eben auch noch hast, herausbringen. Du bist ja jemand, der zur Not auch mit dem Kopf durch die Wand rennt ...» Er malte fieberhaft weiter und kommentierte dabei: «Jetzt gleicht es dir bereits, obwohl noch nichts vom Gesicht da ist! Jetzt haben wir schon den Dichter drin... das Euphorische.»

«Meinst du dieses Rot mit dem Euphorischen?»

«Ja», überlegte er. «Aber jetzt fehlt mir das Ätherische. Es fehlt ein ganz bestimmter Ton, der wieder Raum schafft ... Und diesen Ton muss ich mir jetzt überlegen. Aber das schafft man nicht mit dem Verstand allein. Manchmal ist eben das Unmöglichste das Richtigste ... Lila! Ja, ich nehme Lila.»

«Hat das jetzt auch mit meinem Charakter zu tun?»

«Das hat alles mit deinem Charakter zu tun», meinte er. «Aber nicht das Lila an sich ist entscheidend, sondern der Zusammenklang mit den anderen Farben. Jetzt versuche ich, mich deinen Proportionen zu nähern, aber ich habe noch keine Ahnung, wohin das führen wird. Es ist möglich, dass ich jetzt lauter Fehler mache, aber aus diesen Fehlern kann nachher genau das Richtige kommen, sie bilden einen guten Untergrund. Solche Fehler machen ein Bild reich, sie machen seine Materie aus.» Er nahm Abstand und betrachtete sein Bild.

«Jetzt», meinte er, «muss ich wieder Platz schaffen, damit es einfahren kann ...»

«Einfahren kann?»

«Ja», meinte er. «Damit das, worauf es ankommt, stattfinden kann, muss ich jetzt Platz schaffen. Das, was ich dir nicht erklären kann und was dann eben die Essenz ist ...» Er übermalte ein paar rote Flächen mit dunkleren Tönen, und tatsächlich, in diesem Augenblick schien das Bild auf einmal zu wachsen, es öffnete sich und gewann zugleich an Tiefe. «Das hat jetzt mit Dilettantenmalerei nichts mehr zu tun», meinte er. «Diese Dinge habe ich mir hart erarbeiten müssen. Sieben Jahre lang habe ich darum gekämpft, bis es mir endlich gelungen ist, mit solchen Mitteln Raum zu schaffen.» Wieder nahm er Abstand, und wieder wusste er sofort, was er zu tun hatte. «Seit der Hals Konturen bekommen hat», erklärte er, «stört das Gelb dort oben in der Ecke. Es ist zu weich. Es macht dich zu weiblich. Ich muss es durch einen Ton ersetzen, der dir mehr entspricht ... Ich glaube, wir nehmen ein rotstichiges Grau. » Er führte seine Überlegung aus. «Jetzt darf aber auch dieses Blau dort kein Blau mehr sein ...» Es folgten eine Reihe Korrekturen, die sich alle aus der kleinen Änderung in der oberen Bildecke herleiteten. «Siehst du?» meinte er dann, «jetzt gleichst du dir schon hundertmal mehr.»

Glich ich mir wirklich? In diesen kurzen Momenten drastischer Korrekturen hatte das Bild so viele Wandlungen durchgemacht, dass mir fast schwindelig davon geworden war. Ich stand auf und trat vor das Bild. Eine Flut von aufgerissenen Farbfontänen sprang mir entgegen, eine Mitte aus ausgesparter Leinwand, die Andeutung eines Mundes, ein angedeutetes Brillengestell - und doch war mir, als blickte mir da einer entgegen. Ich trat zehn Schritte zurück, zwölf Schritte ... Und siehe da, das Bild wurde auf einmal messerscharf, und ich musste sagen, dass es mir nicht nur vom Lebensgefühl der Farben her glich, sondern auch in seinen Proportionen.

7.
«Jetzt kommt das so genannte Hirnen», meinte er, setzte sich und blickte in das Bild. «Siehst du die leere Leinwand im rechten Ecken? Das ist der grösste Fehler. Das nimmt dem Bild seine kubische Kraft. Deck doch mal mit der Hand diese Ecke zu ...» Ich folgte seinem Rat. «Siehst du, was passiert?» Ich schwieg. «Jetzt wird der Kopf auf einmal riesengross, und die Meditation wird nicht mehr gestört. Jetzt horchst du in den Weltraum hinaus. Jetzt bekommst du auch etwas von einem tibetischen Lama.» «Sollte nicht auch die linke Schulter etwas tiefer liegen, damit der Kopf freier wird?» wagte ich einen Einwand. «Eine gute Überlegung», meinte er und nahm damit meine Anregung sofort in seinen Schaffensprozess auf. «Fangen wir mit dem Einfachsten an!» Er stand auf, und in wenigen Minuten waren die fälligen Korrekturen ausgeführt. Und jetzt wurde mir klar, was er damit gemeint hatte, dass ein Bild durch seine Fehler an Materie gewinne. Die «Fehler» schimmerten durch die Korrekturen hindurch und gaben damit dem Bild nicht nur Hintergrund, sondern dokumentierten gleichzeitig auch seine Entstehungsgeschichte. Es folgten noch weitere Korrekturen, für die er das Modell allerdings nicht mehr benötigte. Das Bild entwickelte jetzt eine Eigendynamik, die unabhängig vom Modell war. Jetzt ging es um kompositorische Gesichtspunkte. «Siehst du», fragte er etwa, «wie dieses Schwarz die Höhe des Bildes auffrisst?»

Und so ging es weiter: Hier wurde ein Gelb abgeschwächt, dort ein Schwarzrosa vertieft, «Passagen» wurden gelegt, Flächen verkürzt oder gestreckt - jetzt - war der Komponist am Werk, der seinen künstlerischen Kriterien folgte. Was aber hatte das noch mit mir, dem Porträtierten, zu tun? Als hätte er meine Gedanken erraten, machte er mich mit der folgenden Bemerkung darauf aufmerksam, wie sehr das Eingehen auf ein Modell verwoben war mit der künstlerischen Vision an sich: «Jetzt», meinte er, «machen wir etwas Lustiges. Jetzt muss noch eine Farbe hinein, die deinen Charakter unterstützt, gleichzeitig aber das Bild in seine Expression hinaustreibt.»

«Hm!», sagte ich ratlos. Er aber brachte am linken Bildrand einen langen weinroten Streifen an, der sich in der oberen Bildecke ballte, und setzte demgegenüber am rechten Bildrand eine rote Sentenz entgegen, und tatsächlich, es war, als würde dadurch das Bild aus der Leinwand in den Raum nach oben und unten hinausgetrieben.

«Und jetzt», sagte er befriedigt, «müssen wir uns überlegen, was an diesem Bild noch schwach und was bereits sackstark ist.» Er setzte sich und fügte versonnen hinzu: «Vielleicht ist das Bild ja auch fertig. Jetzt brauchen wir eine Pause. Ja, es ist wirklich die Frage, ob man daran noch etwas verbessern kann oder ob man es nur versaut. Eine falsche Intervention und du kannst das ganze Bild fortschmeissen.»

8.
Inzwischen war es Nacht geworden, und mir war, als vertiefe die Dunkelheit vor dem Fenster die Konzentration im Atelier. Es folgten weitere Überlegungen: Nähme man in der Mitte das Rot noch etwas weg, dann käme zwar das «Mathematische, Deutsche» an mir heraus, dafür aber verlöre ich etwas von meinen «Anntennen», die in den Weltraum horchten. Was machte das Bild möglicherweise noch reicher und interessanter? Wodurch würde es nur ärmer und banaler?

Befriedigt stellte der Maler fest, dass sein Werk nirgends verkorkst, orthodox oder gar akademisch sei. Die Frage, was noch zu tun bliebe, wurde immer schwieriger, denn jetzt habe das Bild etwas von einem «blitzartigen Rapport, der einfahre». Baer stellte fest, dass es von den Farben her etwas an Odilon Redon erinnere, und ich erzählte ihm, dass ich bei meinen früheren Malversuchen diesen Maler als grosses Vorbild verehrt hätte. Dieses Zusammentreffen schien ihn nicht zu wundern, es kam ihm selbstverständlich vor. Er empfahl mir, nun einmal neben das Bild auf die weisse Wand zu blicken, da man auf diese Weise die Wahrnehmung auf die farbige Ausstrahlung konzentrieren könne, und tatsächlich, als ich seinen Rat befolgte, nahm ich ein warmes Leuchten wahr, das mich früher an Redons Bildern so fasziniert hatte. Ich lenkte den Blick auf das Bild zurück und fragte, ob das Brillengestell nicht allzu fragmentarisch sei.

«Es ist sehr die Frage», meinte er, «ob wir es besser machen, wenn wir es richtiger machen. Ich finde gerade dieses Fragmentarische gut. Es verleiht dem Ganzen eine innere Schau. Dadurch, dass ich nur deine Umrisse gemalt habe, tritt die reine Farbgebung mehr in den Vordergrund, du wirst mehr durch die Farben charakterisiert, durch die Ausdehnung der seelischen Farben ...» Er stockte. «Jetzt muss man sich wirklich überlegen», fuhr er fort, «wodurch kann man dieses Bild genialer machen? Wie wird es noch knapper? Wie spanne ich die Farben so ein, dass das Intuitive nicht verlorengeht und dennoch nichts mehr zufällig ist? Was meinst du, wie könnte man das anstellen?»

Da war ich natürlich überfragt. Ich schwieg. Aber der Baer erhob sich noch einmal und fing noch einmal an zu tanzen. Es kam ein dunkles Blau rechts vom Hals dazu, wodurch die ganze «Farbenkosmik nach innen gezogen» wurde. «Wenn ich das wieder wegnehmen würde», meinte er, «dann wäre das Bild kaputt. Dein Kopf wäre nichts als ein leerer Ballon.»

«Siehst du», meinte er wenig später, «jetzt ist das Bild in einem guten Zustand. Nichts wirkt gewollt. Nichts wirkt gemacht. Nichts wirkt bewusst. Nichts wirkt könnerhaft eingesetzt. Jetzt haben wir den Dichter, der in das Weltall hinaushorcht. Und das Auge des Betrachters muss dich dauernd suchen, bis es dich endlich hat - aber nur für einen Augenblick lang, und dann bist du schon wieder gegangen. Du bist voll da - und gleichzeitig unfassbar. Man wird mit dem Betrachten nie fertig, da man dich immer wieder aus den Augen verliert.»

Er drehte sich wieder eine Zigarette und kommentierte dabei weiter: «Vermutlich kann man wirklich nichts mehr an dem Bild verbessern! Obwohl man dich ständig aus den Augen verliert, erkennt man dich messerscharf! Man sieht, wie du blickst, obwohl du keine Augen hast. Der Reflex auf dem Brillenglas genügt, dir einen Blick zu geben. Und man sieht, wie du horchst, obwohl ich dir keine Ohren gemalt habe. Es ist eben nicht ein äusseres Ohr, sondern der ganze ausgesparte Kopf, der die Botschaften aufnimmt, die ihm zufliegen ... Ja, das Bild ist gar nicht so dumm.» Es war faszinierend, wie Peter Baer mm im nachhinein das, was er intuitiv geschaffen hatte, mit seinem künstlerischen Sachverstand abwog und staunend rationalisierte.

«Da kann man beim besten Willen nichts mehr verbessern», wiederholte er immer wieder. «Oder sollte man vielleicht den Doppelklecks auf der Stirn etwas dezidierter machen? Aber nein, damit verlöre das Bild an Punch ... Es ist fertig. Ich habe dich mit nichts gemalt, das heisst, mit nichts als einer leeren Leinwand! Das ist auch für mich etwas Neues. So etwas habe ich selten gemacht ... Fertig. Schluss. Ich danke dir für das Sitzen.» Mit diesen Worten drückte er mir die Hand und strahlte wie ein Kind.

Zwar hatte er noch einmal getanzt, aber er fand noch immer keine Ruhe. Es folgten noch einige winzige Änderungen, und ein «Mikrokosmos» wurde gelegt, ein Partikel nur, allerdings von entscheidender Bedeutung für das Öffnen des Raums. «Ich kann es selbst nicht begreifen», meinte er dann, «dass jetzt schon alles stimmt. Das überrascht mich selbst.»

«Wie erklärst du dir», fragte ich, «dass du für manche Bilder Monate brauchst - und für dieses nur einen einzigen Arbeitstag?» «Das liegt an uns beiden», meinte er. «Das liegt auch sehr an deinem Verhalten. Ich habe gespürt, dass du dich durch mich in keinem Moment eingeschränkt gefühlt hast, und daher konnte ich die Arbeit ganz locker angehen, ja, zeitenweise habe ich sogar recht schnodderig gemalt, aber das hat sich dann später ausbezahlt. Wir sind nie unnötig an einem Detail hängengeblieben, wir haben uns nie verkrampft. Auch hatte ich nie das Gefühl, durch deine Anwesenheit einem besonderen Leistungszwang unterworfen zu sein ... Und jetzt bin ich selbst erstaunt, dass es nichts mehr zu ändern gibt! Der Betrachter muss selber daran weitermalen. Es ist eben ein modernes Porträt. Nur ein Porträt, das dem Betrachter die Freiheit lässt, selber daran weiterzumalen, interessiert heute noch ... Dadurch, dass das Bild so viel ausspart, ist es sogar eine Arbeit, die weitergeht als meine bisherigen Porträts. Dieses Bild hat mit der Überwindung der Ästhetik zu tun. Eine emanzipierte Arbeit. Nicht ich, es hat gemalt. Ein Dichterporträt!»

Peter Baer hatte mich also porträtiert. Nun war es an mir, ihn mit der Entstehungsgeschichte meines Porträts zu porträtieren. Ist es mir gelungen? Wo nicht, dort ist der Leser aufgefordert, das Porträt zwischen den Zeilen fertigzuschreiben.


In: Basler Magazin, 7. Februar 1987, S. 1-3