Besuche bei Peter Baer

Es mögen genau 30 Jahre her sein, dass ich ihn, den Bruder eines Schulkameraden, kennenlernte. Die Wohnung ihrer Eltern an der Riehenstrasse zählte vier Zimmer, aber dazuzählen musste man auch den Blick auf die Kornfelder des Bäumlihofs und den Rand des Langen-Erlen-Parks. Im Wohnzimmer hing ein grosses Pferdebild, von einem Vatersbruder gemalt, das ahnen liess, dass auch der Vater selbst noch vieles andere war als der freundliche, zurückhaltende Zollbeamte. Auf den Bücherborden standen Werke über Burgen; sie gehörten der Mutter, die, obwohl nur von mittlerem Wuchs, das Zimmer zu füllen schien, wenn sie den Freund der Söhne begrüssen kam.

Damals besuchte Peter Baer den Vorkurs an der Basler Kunstgewerbeschule, die in dieser Stadt Allgemeine Gewerbeschule hiess. Später, 1954-1958, genoss er eine Graphikerlehre bei Ferdi Afflerbach, dessen bekanntes Atelier zuerst in Basel, später im benachbarten Binningen zu finden war. Als junger Werbegraphiker arbeitete er sodann in der Firma Doetsch Grether & Compagnie. 1960/61 besuchte er die Malklasse von Martin A. Christ an der Gewerbeschule, gegen dessen Autorität er sich zuweilen aufbäumte und dessen Unterricht er in allem, was das Metier betrifft, trotzdem ein gutes Wort gönnte und ein ungetrübtes Andenken wahrte. 1963 ermöglichte ein Stipendium der Stadt Basel einen Studienaufenthalt in Paris. 1964 begannen die EinzeI- und Gruppenausstellungen, mit einer Unterbrechung zwischen 1969 und 1973, die man Krise, Katharsis oder Denkpause nennen kann, während für den kurzen Aufenthalt in New York im Jahre 1977 die Bezeichnung Katalysator zu passen scheint.

Als wir kürzlich in seiner kleinen, rechts des Rheins zwischen einem begrünten Hinterhof und dem Panorama des Schwarzwalds liegenden, bei Tag vom Lachen, Schreien und Singen eines Kindergartens erfüllten Wohnung zusammentrafen, um über die bevorstehende Ausstellung in der Kunsthalle Basel zu sprechen, waren diese Jahre in den wenigen eigenen Bildern und einigen Requisiten gegenwärtig, die sein Wohnzimmer beleben. Das um 1963 gemalte Bild eines Reiters in einsamer Arena, in Farbe, Motiv und Faktur scheinbar nach rückwärts gewandt zu den Basler Graumalern, zu Alberto Giacometti, zu René Auberjonois, während damals die Deutschschweizer Generationsgenossen Rolf Iseli und Samuel Buri mit starkfarbigen Bildern die ersten Erfolge feierten; dann eines jener Bilder, die eine aus Glas- oder Eiswürfeln unregelmässig zusammengesetzte Welt darzustellen scheinen, in der panisch fliehende Reiter, Kampfstiere und Läufer eingeschlossen sind, Anfang der 70er Jahre geschaffen; gegenüber das Bildnis von Susi, der treuen Freundin seit 18 Jahren, mit wenigen bunten, angeblich sorglos hingeworfenen Flecken und Strichen evoziert, entstanden bei einem der wiederholten Aufbrüche zur Farbe und zur Farbdynamik; schliesslich das Senkblei, das als Trophäe von der Zimmerdecke hängt und unmerklich pendelt, man weiss nicht, kam es vor 10 Jahren aus dem Zimmer in die Bilder oder aus den Bildern ins Zimmer.

Beim einfachen, von Peter untadelig zubereiteten Mahl und einer Flasche, deren Etikett mehr verschweigt, als sie verrät, folgen sich Frage und Antwort wie die Bälle im Tischtennis und mit Wechsel des Anspiels: die Sommerwochen mit Susi, die Einkommenssicherung durch Postdienst, gemeinsame Bekannte, meine neue SteIle, sein neues Atelier.

Wir gehen hin, um zu sehen, was zum Teil über zwei, drei Jahre entstanden, aber zumeist in den letzten Monaten erst vollendet worden ist und in den nächsten Wochen ausgestellt werden soll.

Oetlingerstrasse 78 in Kleinbasel, die Durchfahrt durch das Vorderhaus am Boden mit der Jahresszahl 1899 datiert, das Atelier oben im zweigeschossigen Werkstatttrakt, weissgestrichen, mit sorgfältig aus Glühbirnen und Fluoreszenzröhren gemischtem Licht. 
Die grossen Formate überwiegen. Viele Werke sind mit Acryl auf Leinwand gemalt und mit schmalen Latten gerahmt. Allen Bildern liegt ein ausfahrender Malgestus zugrunde; er steht am Anfang, gibt Farbe, Form und Tempo an, noch ehe sich das Motiv einstellt, und bleibt durch alle Weiterarbeit hindurch erhalten. Blosse Leinwand oder unbedeckter Permacrylgrund, die Abstufungen des Impasto, gelegentliche Spritzer und Rinnsale weisen auf den Malgestus hin; nur der genaue Betrachter entdeckt die Spuren beharrlichen Fleisses und des zur zweiten Natur gewordenen, instinktartig sicheren Berechnens, Wägens und Ausgleichens. Oft entscheidet ein Farbtüpfchen oder eine rahmende Linie über die Lesart des Bildraums.

Wenn man sich einmal an den verwirrenden Wechsel des Massstabs gewöhnt hat, der wie die Werke Claes Oldenburgs den Betrachter bald zum Riesen, bald zum Zwerg macht, je nachdem, ob er sich mit den Demiurgen oder mit seinen Geschöpfen identifiziert („Der Schatten“), dann wird man leicht die zuweilen versteckten, zuweilen auch im Bildtitel benannten Motive ausfindig machen: den Riesen, der am Tisch sitzt, den Stierkämpfer, der mit ausgebreiteten Armen die rote Capa hält („Bann“), die mythischen Tiere wie Pavian und Leopard („Er fährt auf ihm“), die Tarantel („Bann“), Stier, Widder und Fisch („Die sieben Schalen“), die in sich gekehrten Menschen. Danach befragt, gibt der Maler Auskunft, aber nicht rasch und bedenkenlos, sondern zögernd, als müsste er sich zuerst in die Trance des Schaffens zurückversetzen, und dann beginnt er: „Ich sehe ...“

Selten gibt er mehr preis, aber es kommt doch vor. In den Tafeln des Triptychons „Das Unumgängliche“ deuten sich an, von links nach rechts: 1. Das Warten, 2. Die bare weibliche Trauer (auch: Mutter mit grünem Haar), 3. Der Stier wird gefangen; es sind Elemente einer aus Tagtraum und Nachtwache aufgestiegenen Bilderwelt, deren Sinngehalt freilich auch hier jenseits des Benennens liegt. Der Maler greift zur Sprache des Surrrealismus, - vom Bild rechts im Triptychon „Paraabel“ sagt Peter Baer, die Figur, die den Stuhl besetzt, werfe „den Schatten des Stiers“. Auch die Welt des Übersinnlichen hält Worte bereit, die den Sinn der Bilder einzukreisen vermögen. Im Bild „Schutzbereich“ ist ein Bett dargestellt; die Figur ist nicht sichtbar, sie „sagt sich an“. Unauffälliger erscheint diese Art von Sprache in den Bildtiteln „Durchschreiten“ und „Über die Schwelle“.

Hemingways Erzählung „Der alte Mann und das Meer“, die wir beide lieben, dient uns als Zitatenschatz zur Verständigung. Eine von Peter Baers Antworten aus diesem Buch: „Nichts, ich bin zu weit hinausgefahren.“ - Nein, Peter, nur weit genug, um eine neue Welt gesehen zu haben.

In: Peter Baer. Werke 1980/83.
Galerie „zem Specht“, 13.10. bis 5.11.1983
Kunsthalle Basel, 22.1. bis 26.2.1984